Leichtsinnig ist dieser Winterausklang, der mich auf freiem Fuß vorfindet. Das Leben ist ohnedies, schon vor langer Zeit, aus mir geronnen. Meine Wohnung ist noch immer verdunkelt. Sowohl tags- als auch nachtsüber. Verstört, traue ich mich nicht, die Vorhänge von den Fenstern zu ziehen. Damit der Raum sich ja nicht mit dem Morgen füllt, ob grau oder aquamarinblau, ist völlig egal. Das Unbewusste beherrscht die Wirklichkeit. Obgleich ich mich mit aller Kraft bemühe, lässt die Furcht nicht nach. Sie sitzt tief. Womöglich ist sie noch größer. Mit Bestimmtheit kann ich das nicht sagen. Mein Gymnasiumprofessor meinte seinerzeit, es sei unmöglich, sich einen Begriff vom Licht zu machen, ohne vorher durch die Finsternis gegangen zu sein. Der bin ich! Ich fürchte die Finsternis jedoch nicht. Ganz im Gegenteil. Ich fürchte mich vor dem Licht. In der Dunkelheit komme ich wunderbar zurecht. Nur während der ersten Woche war ich über Gegenstände gestolpert. Danach wurde ich ausgesprochen geschickt. Wie ein Solotänzer drehe ich meine Kreise in dem engen Raum. Ich würde mich hervorragend schlagen als Blinder. Oder als Fledermaus. Bin ich deswegen noch unversehrt? Nur der Allmächtige weiß, warum er mein Leben verschont. Die langen vierundvierzig Monate unter Belagerung haben ihren Tribut gefordert. Ich bin ein anderer Mensch geworden. Viele glauben, dass ich ein Glückspilz bin. Ich bin mir da nicht so sicher. Wie ein Sieger komme ich mir nicht vor.
Der Tod ist in meiner Stadt unvermeidlich und alltäglich. Allnächtlich ebenfalls. Ich verlasse die Wohnung nur, wenn es äußerst notwendig ist. Zweimal pro Woche. Schließlich muss man etwas essen und trinken. Lebensmittel sind knapp. Sie sind schwer zu bekommen und teuer. Wasser ist kostenlos, aber das Wasserholen ist lebensgefährlich. Das Kanonenfeuer ist anhaltend und unberechenbar. Selbst wenn du das Glück hast, einer Granate zu entgehen, lauert um die Ecke schon die nächste Gefahr auf dich. Scharfschützen, topografisch präzise positioniert. Sie arbeiten 24/7. Geduldig warten sie auf den Augenblick, in dem du einen Plastikkanister in die Hand nimmst und es wagst, einen Fuß auf die offene Fläche, die dich vom Stadtbrunnen trennt, zu setzen. Das Haus meiner Eltern liegt unweit meines Wohnhauses. Mutter und Vater sind schon betagt, deshalb mache ich die Besorgungen für uns alle. Das Meiste zahlen sie. Jedes Mal wundere ich mich, wo sie Schmuck und Dukaten immer wieder herzaubern. Jedes Mal haben sie eine einleuchtende Erklärung parat. Sie haben bereits einen blutigen Krieg erlebt. Den Einkauf, den ich tagsüber erledige, bringe ich ihnen nachts. Weil das Risiko geringer ist.
Es gibt nichts Schöneres einen Morgen, wenn die Sonne am Horizont hervorlugt und den Duft von Lindenblüten verströmt. Es war ein solcher, duftender Morgen. Sonntag. Wie geschaffen für den Flohmarkt. Bevor ich hinausgehe, scanne ich die Umgebung durch einen nicht allzu großen Sprung in der Fensterjalousie sorgfältig ab. Die einzige Möglichkeit, unbemerkt einen Blick hinaus zu werfen. Gegen sieben Uhr verlasse ich die Wohnung. Um diese Zeit sind die Kanonier und Scharfschützen für gewöhnlich mit ihrem Frühstück beschäftigt. Heute teile ich meine Aufgaben ausnahmsweise mit meinem Vater. Er holt Wasser, und ich gehe auf den Flohmarkt. Er besteht darauf. Er will sich nützlich machen. Jegliche Widerrede zwecklos. Er sei der Ältere von uns beiden, sagt er, und er lasse nicht zu, dass sein einziger Sohn zweimal am Tag das Leben aufs Spiel setzt. Ich glaube, dass er ein schlechtes Gewissen hat, weil das gesamte Familienvermögen mittlerweile für Lebensmittel draufgegangen ist. Ich muss heute meine Handelsstrategie ändern. Meine bisherigen Handelspartner vertrauen nur auf die deutsche Mark und das glänzende Gold. Am Flohmarkt jedoch ist der Tauschhandel das A und O. Schweren Herzens rolle ich das geliebte Gemälde zusammen. Mersad Berbers „Frau und Pferd“, Mischtechnik. Vielleicht gelingt es mir, es gegen ein Säckchen Mehl einzutauschen. Welch verzerrte Werte. Vater versucht, mich davon abzubringen, er weiß, wie viel mir dieses Geschenk bedeutet. Leider ist jegliches Zaudern unter diesen Umständen fehl am Platz. Man darf nicht zulassen, vom eigenen Leben gelebt zu werden. Ich lasse es nicht zu. Mein Entschluss steht fest. Das Gemälde wird getauscht.
Vor einer hundertjährigen Eiche komme ich zum Stehen. Unter der Baumkrone sitzt eine Greisin. Ihr Körper ist reglos erstarrt, ihr Gesicht unter dem dünnen Kopftuch wie versteinert. Ihre knochigen Hände sind das das Einzige, das sich rührt. Geschickt wickeln die verkrümmten Finger das Garn und überkreuzen die Stricknadeln. Ihr einziges Tauschgut, ein schneeweißes Brautkleid, hängt von einem Eichenzweig knapp über ihrem Kopf hinunter. Auf meine Frage, ob der Platz neben ihr frei ist, antwortet sie nicht. Ich fasse die Gleichgültigkeit der Greisin als Zustimmung auf. Ich setze mich hin und breite das Bild aus. Augenblicklich setzt das Geratter der Maschinengewehre ein, kurze Salven ergießen sich. Sie häufen sich und werden länger. Einen Augenblick später donnert ein Knall vom Berg herab. Das gut bekannte Zischen eines Flugkörpers schneidet durch die Luft. Unbewusst drücke ich das Gemälde an die Brust und krümme mich wie ein Neugeborenes zusammen. Ein paar Sekunden später platzt in unmittelbarer Nähe eine gewaltige Explosion. Auf einmal ein surreales Bild. Das Brautkleid erwacht zu Leben. Die Druckwelle hat es plötzlich von unten angehoben und zu einer fallschirmartigen Kuppel gebläht. Dann fällt es, etwas langsamer, wieder in seine ursprüngliche Form zurück. Die Greisin rührt sich keinen Augenblick. In unveränderter Haltung und ohne mit der Wimper zu zucken, nimmt sie weiterhin die Maschen mit den Stricknadeln auf. Wenige Minuten später herrscht wieder reges Stimmengewirr auf dem Flohmarkt. Der lebende Mensch ist, selbst bei allerschlimmsten Gräueln, außerordentlich anpassungsfähig, denke ich mir, während ich mein Bild wieder auseinanderrolle. Heute habe ich kein Händlerglück. Dabei hatte ich zugegebenermaßen einige Angebote, das Gemälde einzutauschen, und zwar gegen eine Schachtel Zigaretten, gebrauchte Dachziegel, eine Truhe voller Bücher mit den Aufklebern der lokalen öffentlichen Bücherei. Schließlich wollte mir ein ausgesprochen beharrlicher Typ ernsthaft einen Benzinrasenmäher im Tausch für das Gemälde andrehen. Ich rolle den Berber wieder ein und mache mich auf den Weg. Nach jeder kurzen Strecke, die ich laufend zurücklege, suche ich guten Schutz. Bevor ich den jeweils nächsten Streckenabschnitt in diesem ständigen Lauf um mein Leben nehme, blicke ich mich vorsichtig umher. Wenn ich stehenbleibe, bedeutet das meinen Tod.
Vor Entsetzen gelähmt, stehe ich wie angewurzelt vor dem Brunnen. Mein armer Vater ist blutbedeckt und drückt krampfhaft den Wasserkanister in der Hand. Die Angst verschwindet augenblicklich. Ich wünsche mir aufrichtig meinen eigenen Tod. Ich weiß, dass der Unmensch durch die optische Visierung des Gewehrs auf mich hinunterschaut. Wutentbrannt drehe ich mich in alle Richtungen und brülle hinauf:
Hast du denn keine Seele, du Biest? Du erschießt einen hilflosen Menschen, nur weil er Durst hat! Na los, du Feigling, töte mich! Schieß los! Einer geht sicher noch, bis du dein Tagespensum erfüllt hast!
Der Verbrecher zeigt keine Reaktion. Nichts passiert. Eine eigenartige Stille setzt ein. Unter Tränen hieve ich den mageren Körper meines Vaters auf den Rücken hoch und gehe, strauchelnd, in Richtung Friedhof los. Das muss ich. „Wie soll ich es nur Mutter sagen?“, das ist der einzige Gedanke in meinem Kopf, und er geistert herum, treibt mich an den Rand des Wahnsinns. Auf dem halben Weg treffe ich auf einen Verwandten. Gott persönlich hat ihn zu mir geschickt, damit er mir mit dem Vater hilft. Alleine hätte ich die Platte am Familiengrab nicht verrücken können. Während rund um uns Granaten einschlagen, legen wir Vater ohne Sarg in das Grab und beerdigen ihn heulend, ohne Priester. Trotz der Lebensgefahr weicht mein Verwandter nicht von meiner Seite, er begleitet mich nach Hause. Er versucht mich zu trösten, während ich, schmerzerfüllt, vor mich hin wimmere. Er kann es nicht ahnen, dass etwas Anderes mir auch schwer auf dem Herzen liegt. Etwas, das möglicherweise schlimmer als der Tod ist.
„Gott, wie soll ich es bloß Mutter sagen?“, wiederhole ich unzählige Male und drücke seine Hand unbewusst noch fester.
Je näher ich zu meinem Elternhaus komme, desto bleierner werden meine Beine. Es ist gleich da, hinter der Ecke. Auf einmal: blankes Entsetzen! Anstelle unseres Hauses - ein riesiger Krater. Mein Verwandter stützt mich, damit ich nicht auf den Boden sacke.
„Gott sei Dank muss ich es Mutter nicht sagen“, stoße ich aus, bevor mir schwarz vor Augen wird.
Dušan Savić: Unter Belagerung
Titel des Originals: U okruženju
Ins Deutsche übersetzt von Grozdana Bulov, Common Language, Wien ©
Dušan Savić: Kommentar des Autors zur Kurzgeschichte „Unter Belagerung“
Gerade um die Zeit, als sich das Ende der Belagerung Sarajevos, einer der längsten Stadtbelagerungen in der neueren Geschichte, am 29. Februar 2022 zum 30. Mal jährte, drängte sich mir diese Antikriegsgeschichte irgendwie von selbst auf. Es ist eine schwierige Aufgabe für einen Autor, etwas über sein eigenes Werk zu schreiben. Möglicherweise umso schwieriger, wenn es dabei um einen eintausend vierhundertfünfundzwanzig Tage andauernden Raketen- und Scharfschützenbeschuss geht, der während des Krieges in Bosnien-Herzegowina über Sarajevo niederging, und um zweihundertfünfzig Tausend Menschen UNTER BELAGERUNG, die jeweils täglich eine Zielscheibe dieses Beschusses waren, egal ob Bosniaken, Serben, Kroaten, Juden... Am Ende der Belagerung stand ein Blutzoll von zehntausend Opfern, der Reihe nach unschuldiger Zivilisten. Was ist denn das für ein Feind, auf welchen von den umliegenden Bergen hinunter gefeuert, und, nebenher, eine Stadt getötet wird? Was ist das für ein Hirn, welches zielgerichtet Menschen tötet und dabei nicht einmal vor Kindern zurückschreckt? Wo war Walter, der legendäre Held aus dem jugoslawischen Partisanenfilm „Walter Defends Sarajevo“, diesmal geblieben, um Sarajevo zu verteidigen? Zahlreiche Fragen werden wohl für immer unbeantwortet bleiben, aber eines steht fest: jeder Überlebende des kochenden Kessels von Sarajevo ist ein Zeuge dafür, dass Krieg die allerschwerste Demütigung ist, die der Menschheit angetan werden kann. Sarajevo soll, genauso wie der Holocaust, niemals vergessen werden. Ich schäme mich nicht meiner Meinung, auch wenn ich anders als die Mehrheit denke.
Dušan Savić: Kommentar des Autors (Komentar uz priču)
Ins Deutsche übersetzt von Grozdana Bulov, Common Language, Wien ©
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